Vor 17 Jahren wurde unter dem damaligen Umweltminister Siegmar Gabriel das Ziel ausgegeben, den Rückgang der Biodiversität innerhalb von nur drei Jahren aufzuhalten. Es blieb ein frommer Wunsch. Die Trendwende blieb aus. Der Verlust der Artenvielfalt schritt weiter voran. Inzwischen gelten hierzulande etwa ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten als gefährdet. Zwei Drittel unserer geschützten Lebensräume sind in schlechtem Zustand.
Jetzt kommt endlich ein neuer Versuch, das Sterben zu stoppen: Mitte August tritt die europäische Naturwiederherstellungsverordnung, das Nature Restoration Law, in Kraft. Eine Regelung, die sich als „Gamechanger“ erweisen könnte. Die Verordnung gilt als wichtigstes EU-Naturschutzgesetz seit Jahrzehnten. Richtig umgesetzt, wird sie entscheidend zum dringend notwendigen Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen beitragen.
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Papier ist geduldig
Deutschland- und europaweit gibt es ein riesiges Netz an Naturschutzgebieten. Es gibt mit der Flora-Fauna-Habitat‑, der Wasser-Rahmen- und der Vogelschutzrichtlinie wegweisende europäische Vorgaben. Sie sind zum Teil seit Jahrzehnten in Kraft. Trotzdem ist die Natur nicht ausreichend geschützt. Papier ist geduldig! Den Niedergang der Natur haben die Richtlinien nicht aufgehalten. Die in den vergangenen zwei Jahren in einem Politikkrimi ohnegleichen umkämpfte Wiederherstellungsverordnung soll frühere Fehler ausbügeln. Auch wenn das Gesetz im politischen Verfahren durch Abschwächungen und Ausnahmen an Substanz verloren hat, birgt es die Chance für einen Neustart. Das Nature Restoration Law soll das Artensterbens in Europa stoppen und für mehr Widerstandsfähigkeit gegen die Folgen der Klimakrise wie Dürren, Überflutungen und Waldbrände sorgen.
Wie konnte es mit unserer Natur überhaupt so weit abwärts gehen und was muss man sich unter ihrer Wiederherstellung vorstellen? Die Ursachen für das Artensterben liegen in der Übernutzung und Schädigung der Natur durch den Menschen. Hohe Stickstoff- und Pestizideinträge in der Landwirtschaft, die intensive Bewirtschaftung von Feldern und Wäldern haben genauso ihre Spuren hinterlassen wie Verluste und Zerschneidung natürlicher Flächen durch Versiegelung der Böden oder Verkehrsprojekte. Hinzu kommt die Verschmutzung von Gewässern und die zunehmende Erderwärmung.
Wiedervernässen, Entsiegeln, Aufforsten
Wiederherstellung kann bedeuten, der Natur zu erlauben, sich weitgehend ohne schädigende Einflüsse des Menschen zu erholen. Oft ist dazu ein aktives Eingreifen nötig. Manche Maßnahmen setzen auf eine veränderte oder schonendere Nutzung der Natur. Als Wiederherstellungsmaßnahmen gelten beispielsweise die Wiedervernässung entwässerter Moore, der Waldumbau hin zu naturnäheren und klimaresilienteren Wäldern. Wichtig ist zudem das Zurückverlegen von Deichen, um Flüssen mehr Raum zu geben und neue Auen zu schaffen. Zur Renaturierung gehören auch eine durch mehr Baumreihen, Feldgehölze und Hecken aufgelockerte Agrarlandschaft, die vielerlei Arten Rückzugsraum bietet, besser geschützte Naturschutzgebiete und mehr Parks und Grünflächen in den Städten.
Befreite Flüsse und drei Milliarden Bäume
Die nun in Kraft tretende EU-Naturwiederherstellungsverordnung zielt auf die langfristige Erholung der europäischen Ökosysteme an Land und in den Meeren ab. Dafür sollen bis 2030 auf 20 Prozent der Landes- und Meeresfläche Europas Wiederherstellungsmaßnahmen erfolgen – bis 2050 auf allen geschädigten Naturflächen. Die Verordnung macht Vorgaben zur Verbesserung des Zustands europäischer FFH- und Vogelschutzgebiete. Sie schreibt überprüfbare Verbesserungstrends für den Wald, die Agrarlandschaft und den Zustand von Insektenpopulationen vor. Europaweit soll das Ziel von zusätzlich 25.000 Kilometern freifließender Flüsse erreicht werden. Es sollen Moore wieder vernässt, drei Milliarden Bäume gepflanzt und innerstädtische Grünflächen ausgebaut werden.
Wird das eines Tages wahr, ist nicht nur der Natur gedient, sondern auch uns Menschen – nicht zuletzt haben die Maßnahmen sehr positive Effekte für den Klimaschutz und die Klimaanpassung. Eine intakte Natur erbringt unentbehrliche Ökosystemleistungen, liefert wichtige Rohstoffe, sorgt für fruchtbare Böden, sauberes Trinkwasser und saubere Luft. Wildbienen leisten als Bestäuber unbezahlbare Dienste für unsere Lebensmittelversorgung. Grünflächen liefern Feuchtigkeit und Kühle. Ein gut gemachter Waldumbau und die Renaturierung von Flüssen wirken sich positiv auf den Landschaftswasserhaushalt aus, was angesichts zunehmender Dürren dringend erforderlich ist. Intakte Moore und Wälder sind nicht nur wertvolle Ökosysteme, sondern dienen zugleich als CO2-Speicher.
Zeit, die wir nicht haben
Doch erst einmal muss dem Gesetz Leben eingehaucht werden. Das kann bis 2027 dauern, denn zunächst müssen die EU-Mitgliedsstaaten auf ihre Bedingungen angepasste Nationale Wiederherstellungspläne entwickeln. Anschließend muss die EU-Kommission Grünes Licht geben. Hier verstreicht zu viel Zeit, nicht nur, wenn man bedenkt, dass Renaturierungsprojekte oft viele Jahre dauern. Sondern auch vor dem Hintergrund, dass das von allen EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnete Kunming-Montreal-Abkommen den Stopp des weltweiten Biodiversitätsverlustes bis 2030 anpeilt. Die deutsche Bundesregierung muss mit der Wiederherstellung der Natur deshalb in Vorleistung gehen und tut das auch mit dem „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“. Dieses darf keiner Sparrunde zum Opfer fallen und muss von der nächsten Regierung ungemindert fortgeführt werden.
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Die Naturwiederherstellungsverordnung dürfte zu intensiven Diskussionen um eine naturnähere Land- und Forstnutzung führen. Sie kann nur mit den Landnutzenden gemeinsam umgesetzt werden. Tragfähige Einkommensquellen in diesen Bereichen bleiben ein zentrales Thema. Gut organisierte Beteiligungsformate müssen die Erstellung des Nationalen Wiederherstellungsplans flankieren. Schwarz-Weiß-Denken sollte von allen Seiten überwunden werden.
Trotz oft erbitterten Streits ist die Naturwiederherstellungsverordnung ein wunderbares Erbe der gerade beendeten EU-Parlamentsperiode. Sie bietet erneut die Chance einer Trendwende. Nun kommt es darauf an, diese nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.
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