Vorwahl: 02164, Postleitzahl: 41812, Einwohner:innen: 8 (Stand 30.06.2022). Das sind die nüchternen Informationen, die man in Lützeraths Wikipedia-Eintrag findet. Informationen, die man nach den Plänen der grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen und des Energiekonzerns RWE schon bald nicht mehr benötigt. Denn Lützerath soll geräumt und abgebaggert werden.
Seit Jahren schon läuft die Umsiedlung des Ortes am Rande des Kohletagebaus Garzweiler. Mittlerweile haben alle ursprünglichen – früher mal mehr als hundert –Dorfbewohner:innen ihr Zuhause verlassen. Leer steht Lützerath trotzdem nicht. Seit 2021 besetzen Klimaaktivist:innen die Häuser des verlassenen Dorfes. Sie protestieren gegen die Ausweitung des Kohleabbaus und die dafür notwendige Abbaggerung des Dorfes. Durch die anstehende Räumung kommt es zum Aufeinandertreffen von Polizeikräften und Demonstrant:innen. Dabei stellen sich die Fragen: Sollte ein Dorf abgebaggert werden, um noch mehr Kohle abzubauen – aus der wir aber eigentlich aussteigen wollen? Aber was ist mit der Energiesicherheit? Welche Kompromisse muss und kann man machen – und welche schaden mehr, als dass sie nützen?
Was ist eigentlich passiert im Fall Lützerath?
Die Sache ist – wie immer – kompliziert. Deswegen, von vorne. Im Oktober 2022 hatten sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und NRW-Landesministerin Mona Neubaur mit dem Energiekonzern RWE auf einen vorgezogenen Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen geeinigt. Solch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung sei zur Einhaltung der Klimaschutzziele notwendig, heißt es in der Verständigung.
So weit, so gut: Darauf können sich vermutlich alle einigen. Denn in der Klimakrise haben wir keine Zeit zu verlieren. Schon jetzt verstärken sich Extremwetterereignisse auf der ganzen Welt. Und schon jetzt ist die globale Durchschnittstemperatur um mehr als 1,1 Grad angestiegen. Alle Länder, gerade die reichen Industriestaaten, müssen jetzt schnell und effektiv ihre Emissionen senken. Das weiß auch die Bunderegierung und auch die beiden Grünen Minister:innen Habeck und Neubaur.
Der Haken: Mehr Emissionen trotz gesetzlichem Ausstieg
Der Haken an der Einigung mit RWE aus dem Oktober ist jedoch der zweite Teil des Kompromisses. Demnach gehen zwar RWEs Kraftwerke in Nordrhein-Westfalen bis spätestens 31.03.2030 vom Netz. Gleichzeitig dürfen aber die zwei Kraftwerksblöcke Neurath D und E, die eigentlich schon bis Ende 2022 stillgelegt werden sollten, noch bis März 2024 weiterlaufen. Bis 2030 könnten so durch die Mehrverstromung von Kohle und Öl in Deutschland 164 Millionen Tonnen mehr CO2 anfallen, als uns in einem projizierten Emissionsbudget zur Verfügung stehen würden. Damit könnte sich der Kohle-Kompromiss als Mogelpackung herausstellen.
Mit dem WWF-Newsletter nichts mehr verpassen!In der Einigung mit RWE rechtfertigen das BMWK und das Land Nordrhein-Westfalen diese hohen Emissionen mit der Energiekrise. In der aktuellen Situation bedürfe es einer temporären Ausweitung der Kohleverstromung, um Gas einzusparen. Dies ist jedoch für die Krise in diesem Winter eine fragwürdige Argumentation. Denn zwar sind Gaseinsparungen momentan das Gebot der Stunde. Jedoch wird die Kohle unter, hinter und neben Lützerath wohl kaum noch zur Energiesicherheit in diesem Winter beitragen. Stattdessen könnten der Ausbau von erneuerbaren Energien und Energieeinsparungen nachhaltig und langfristig einen signifikanten Beitrag für die Energiesicherheit in Deutschland leisten.
Ein Kompromiss entgegen internationalen und deutschen Verpflichtungen
Zudem zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: Die geplanten Abbaumengen der Kohle aus den rheinischen Tagebauen Hambach und Garzweiler II sind nicht mit Deutschlands internationalen Verpflichtungen vereinbar. Im Pariser Abkommen hat Deutschland sich verpflichtet, die Erderhitzung auf möglichst 1,5, maximal 2 Grad zu begrenzen. Um das zu schaffen, dürften nur noch 200 Millionen Tonnen Braunkohle im rheinischen Revier gefördert werden – weniger also als die Mengen, die RWE abbauen will.
Und nicht nur mit den internationalen Verpflichtungen, auch mit den deutschen Gesetzen ist die Kohleförderung und ‑verstromung im Rheinischen Gebiet nur schwer vereinbar. Denn durch das Klimaschutzgesetz ist die Bundesregierung gesetzlich verpflichtet, Deutschlands Emissionen in allen Sektoren stark zu reduzieren– auch im Energiesektor. Bis 2045 soll Treibhausgasneutralität erreicht werden. Um das zu schaffen und transparent zu überprüfen, gibt es Sektorziele. Im Bereich Energie droht Deutschland dieses Ziel jedoch durch den Kohle-Kompromiss mit RWE zu verfehlen.
Nicht nur das Datum zählt – sondern auch die Kohlemenge
Insgesamt wird klar: Beim Klimaschutz geht es nicht nur um die Frage des endgültigen Kohleausstiegsdatums. Es geht auch darum, wie viel Kohle bis zu diesem Datum verfeuert wird.
1. Dass der Kohleausstieg im Rheinischen Revier gesetzlich auf 2030 vorgezogen wurde, ist ein richtiger Schritt. Jedoch zeigen Studien, dass ein Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken nach 2030 möglicherweise sowieso unrentabel geworden wäre, unter anderem aufgrund von steigenden CO2-Preisen.
2. Dass in dem Kompromiss zwischen RWE und der Politik vereinbart wurde, dass bis 2030 unter Umständen deutlich mehr Kohle verbrannt wird als geplant, ist jedoch nicht akzeptabel und weder mit unseren deutschen Klimazielen, noch mit dem Pariser Abkommen vereinbar.
Die Klimakrise darf nicht hinter der aktuellen Energiekrise angestellt werden. Tausende junge Menschen fordern zurecht, dass auch ihre Zukunft von der heutigen Politik beachtet wird. Das hat nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht 2021 mit seinem Urteil zum Klimaschutzgesetz deutlich gemacht. Deswegen sollte die Räumung Lützeraths gestoppt werden und die Kohle bleiben, wo sie ist: unter dem Boden des Dorfes. Denn die Verbrennung dieser Kohle würde Mehremissionen erzeugen, die wir uns nicht mehr leisten können.
Wir brauchen einen 1,5‑Grad-kompatiblen Kohleausstieg
Mit dem Erhalt Lützeraths könnte die Bunderegierung ein Zeichen setzen, dass sie es ernst meint, mit dem Klimaschutz, mit ihren Klimazielen und mit dem Pariser Abkommen. Sie sollte einen bundesweiten, 1,5‑Grad-kompatiblen Kohleausstieg bis 2030 – sowohl im Rheinland als auch in Ostdeutschland – rechtlich bindend festlegen. Und der Schlüssel für die Wahrung der Energiesicherheit in der durch fossile Energien getriebenen Krise? Der liegt nicht in fossiler Kohle. Sondern in Energieeinsparungen und im Ausbau von erneuerbaren Energien.
Die Thematik Lützerath hätten wir uns sparen können, wenn man sofort
nach dem Erkennen des Gasengpasses einem mehrjährigen kompletten Weiter-
betrieb der noch arbeitenden Kernkraftwerke zugestimmt hätte.
Es ist schon sehr besonders, wenn sich unsere Geschäftsführung hinstellt und aus parteitaktischen Gründen auf diese Mitwirkung der Kernkraft verzichtet. Das hätte ganz sicher die Inbetriebnahme von Uralt-Kohlekraftwerken mit ihrem CO2 Ausstoß massiv reduzieren können.
In Belgien hat eine grüne Umweltministerin die Verlängerung der Betriebszeit von zwei KKW um 10 Jahre ohne weiteres Aufsehen mit den Betreibern vereinbart.
In Finnland ist die dortige grüne Partei ebenfalls auf dem Kurs, neue KKW zu planen. Wenn man die Fakten einmal zusammenträgt und die Emotionen deutlich zurück fährt, kommt man zu dem Ergebnis: die Kernkraft ist die Übergangstechnologie bis wir das Perpetuum mobile erfunden haben.
Lieber Herr Engel,
zu der Thematik der Atomkraftwerke kann ich Ihnen einen anderen Blogartikel (https://blog.wwf.de/gruende-gegen-atomkraft/) und unser Hintergrundpapier (https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/Klima/hintergrundpapier-ohne-atomkraft-in-die-zukunft.pdf) empfehlen.
Atomkraft geht mit enormen Sicherheitsrisiken einher (insbesondere angesichts der Klimakrise und den steigenden Temperaturen – das haben wir nicht zuletzt letzten Sommer in der Hitze in Frankreich gesehen), es gibt kein geeignetes Endlager für Atommüll und praktische und rechtliche Fragen sind ungeklärt. Deswegen sollten wir lieber konsequent auf erneuerbare Energien setzen, die zukunftsfest, sicher und klimafreundlich sind.
Beste Grüße,
Nele Steinbrecher
Bevor nicht klar ist wie der Hinterkammerkompromiss zwischen Hern Habeck und RWE zustandekam und ob Seitens der Grünen alles versucht wurde um Lützerath zu retten fühlt es sich wie ein Verrat an der Klimabewegung an. Die aktuelle Politik der Grünen setzt einfach die Realpolitik fort und hat ihre Wurzeln des Umweltschutzes anderen Premissen untergeordnet.
Ich denke von den 35.000 Demonstranten die heute in Lützerath friedlich protestieren wird keiner mehr so ohne weiteres “Grün” wählen können. Das Potential für eine Spartenpartei mit einem verlässlichen Öko-Profil wächst.
Liebe Frau Steinbrecher,
diese Stelle in Ihrem Artikel zu Lützerath verstehe ich nicht:
„Demnach gehen zwar RWEs Kraftwerke … bis spätestens 31.03.2030 vom Netz. Gleichzeitig dürfen aber die zwei Kraftwerksblöcke Neurath D und E, die eigentlich schon bis Ende 2022 stillgelegt werden sollten, noch bis März 2024 weiterlaufen. Bis 2030 könnten so … 164 Millionen Tonnen mehr CO2 anfallen, als uns … zur Verfügung stehen würden.“
Woher kommen diese 164 mil. Tonnen CO2 mehr? Die entstehen doch sicherlich nicht in den beiden Kohle-Kraftwerksblöcken von RWE, wenn die 1,5 Jahre länger laufen, als geplant?
Was ich außerdem in Ihrem ansonsten sehr informativen Artikel vermisse, ist der Hinweis, dass RWE bereits unter der Vorgänger-Regierung das Recht erworben hatte, Lützerath abzubaggern, und dass dieses Recht noch einmal vom höchsten Amtsgericht bestätigt worden ist. Heißt, Lützerath „gehört“ RWE und die neue Bundesregierung hatte wenig Verhandlungsspielraum. Deshalb fand ich den Kompromiss, zwei Kraftwerke 1,5 Jahre länger laufen zu lassen, bislang einigermaßen tragbar, und deshalb hat mich Ihre o. a. Artikeldarstellung überrascht.
Viele Grüße,
Christina Hegenberg
Liebe Frau Hegenberg,
danke für Ihr Interesse und Ihre Frage. Details zu den 164 Millionen Tonnen CO2 finden Sie in der Studie von Aurora Energy Research: https://www.bund-nrw.de/fileadmin/nrw/dokumente/braunkohle/221128_EBC_Aurora_Kohleausstiegspfad_und_Emissionen_as_sent.pdf. Wichtig ist dabei, dass es 164 Millionen Tonnen mehr CO2 sind, als uns in einem projizierten Emissionsbudget zur Verfügung stehen würden. Dieses Budget wurde für eine lineare Reduktion der Emissionen im Stromsektor berechnet. Die tatsächlichen MEHRemissionen durch die Maßnahmen zur Verhinderung einer Gasmangellage (Rückholung der Kohle- und Ölkraftwerke und die Verlängerung der Braunkohlekraftwerke im Rheinland) betragen laut der Studie 61 Mio. t CO2 zwischen 2022 und 2024.
Vielen Dank auch für Ihren Hinweis auf die vorangegangenen Vereinbarungen RWEs mit der Vorgänger-Regierung. Es ist richtig, dass die beiden Grünen Neubaur und Habeck mit schwierigen Voraussetzungen in die Verhandlungen mit dem Energiekonzern gestartet sind. Außerdem ist es juristisch bestätigt, dass RWE Eigentümer der Flächen im Rheinischen Gebiet ist. Es ist jedoch noch nicht klar, ob tatsächlich alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, gegen die Nutzung RWEs dieser Flächen für den Kohleabbau vorzugehen. Dies ist insbesondere wichtig, da der Kohleabbau auf den Flächen nicht im Einklang mit dem Pariser Abkommen ist.
Beste Grüße
Nele Steinbrecher
Ich habe den Eindruck, das man bei all’ der Diskussion über die Energiegewinnung vergisst woher die Alternative kommen soll. Man kann doch nicht für ein klimaneutrales Deutschland die Regenwälder zerstören, weil die dortigen Rohstoffe für die alternativen Energien benötigt werden. Tropenholz und seltene Erden für Windräder, Lithium für E‑Autos zum Beispiel, und anderes mehr. Man will in Deutschland keine fossilen Rohstoffe nutzen, nimmt sie aber gern aus anderen Ländern.
Um etwas zu ändern muss man die aktuelle Situation und die Fakten kennen. Dann sollte man vernünftige Alternativen schaffen, bevor kopflos abgeschaltet und krampfhaft und unüberlegt irgendwas gemacht wird. LNG Terminals für Flüssiggas sind auch keine Lösung. Und schon gar nicht die Zerstörung des Amazonas Regenwaldes!
Ich wundere mich immer wieder, wie Dinge, die für mich von jeher selbstverständlich sind, als neue Erkenntnisse zur Nachhaltigkeit “verkauft” werden. Es wäre schon viel gewonnen, wenn jeder bei ganz normalen Dingen sparen würde, zum Beispiel bei Strom, Dinge länger nutzen, auch mal gebrauchtes kaufen, Müll vermeiden usw.
Ganz wichtig finde ich nicht jedes Thema einzelnen zu betrachten sondern die Zusammhänge nicht außer Acht zu lassen, auch global.