Warum keiner genau weiß, wie viele Arten es gibt – und warum sogar in Deutschland noch abertausende neue Lebensformen zu entdecken sind.
Seit Jahrtausenden ordnen die Menschen die Natur. Sie vergleichen die äußere Form von Blüten, Blättern, Knochen, Organen und sortieren alles nach Ähnlichkeit. Die Grundeinheit ist dabei die Art. Ähnliche Arten werden in Gattungen gefasst, ähnliche Gattungen in Familien, ähnliche Familien in Ordnungen usw. Als Vater der modernen „vergleichenden Taxonomie“ gilt heute der schwedische Naturforscher Carl von Linné. Er war zu Beginn des 18. Jahrhunderts – rund 100 Jahre bevor Charles Darwin auf der Beagle zu den Galapagos-Inseln aufbrach – von dem Wunsch besessen, alle Tiere, Pflanzen, Pilze und Mineralien der Welt zu erfassen. Heute verdanken wir ihm die Einführung der lateinischen wissenschaftlichen Bezeichnungen mit Gattungsnamen und Artanhang, die so genannte binäre Nomenklatur. Viele Arten tragen noch heute den Namen, den Linné ihnen gegeben hat. Das Gänseblümchen zum Beispiel hat er Bellis perennis genannt. Bellis, die Schöne und perennis ausdauernd, die ausdauernde Schöne also.
Wir sind zur Hälfte Gemüse
Die Grundeinheit ist also die Art. Eigentlich scheint es recht einfach damit zu sein: ein Tiger ist ein Tiger und ein Eichhörnchen ein Eichhörnchen. Aber wie so oft im Leben wird es umso komplizierter, je intensiver man sich mit etwas beschäftigt. Heute wissen wir, dass alles Lebendige auf unserem Planeten mehr oder weniger eng verwandt ist. Das Leben ist nur ein Mal entstanden und alles andere hat sich daraus entwickelt. Der Mensch hat 99 Prozent seines Erbgutes mit Schimpansen und Bonobos gemein (besonders bei den „Gehirn-Genen“ ist der Unterschied marginal). Aber auch mit dem Blumenkohl oder der Banane stimmt unsere DNA noch zu mehr als der Hälfte überein. Wir sind zur Hälfte Gemüse. Alles Getier, alle Pflanzen und Pilze sind unsere entfernten Cousins und Cousinen.
Durch DNA-Barcoding zu neuen Erkenntnissen
Eine Art ist nach der heute vorherrschenden Definition eine Anzahl Lebewesen, die unter natürlichen Lebensbedingungen gesunde Kinder bekommt, die dann auch wieder gesunde Kinder bekommen können. Eine Fortpflanzungsgemeinschaft also. Nur wie stellt man das fest? Früher hat man alles nur nach irgendwelchen äußeren Merkmalen eingeteilt und bei vielen Arten (Tiger, Eichhörnchen) stimmt diese Einteilung noch immer. Heute nutzen die Forscher:innen Ähnlichkeiten in der Erbsubstanz DNA zur Ermittlung von Arten und Verwandtschaften – und stoßen jeden Tag auf Wunder und Staunen. Bislang nahe verwandt geglaubte Arten sind es gar nicht. Bei einzelnen Arten stellt sich plötzlich heraus, dass es nicht ein und dieselbe, sondern mehrere Arten sind. Andere gehören jetzt zu ganz anderen Gattungen oder Familien, da ändert sich dann der komplette Name. Wer, so wie ich, vor 35 Jahren die wissenschaftlichen Pflanzennamen gelernt hat, wundert sich immer wieder darüber, wie gemeinhin alte Bekannte inzwischen heißen.
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Dabei nutzen die Forscher:innen das so genannte DNA-Barcoding. Wie beim Strichcode auf den Lebensmitteln im Supermarkt (bar heißt im englischen Balken) nutzen sie Basenpaare auf einem Markergen zum Vergleich. Da sich die DNA-Abfolge mit einer im Großen und Ganzen gleichmäßigen Rate durch einzelne Punktmutationen im Lauf der Zeit verändert, besitzen näher verwandte Lebewesen und Arten ähnlichere Abfolgen. Solange eine Art ungeteilt bleibt, d. h., einen gemeinsamen Genpool besitzt, werden Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen durch Genfluss immer wieder ausgeglichen.
Artenkenner sterben schneller aus als die Arten
Seit langem gilt das Forschungsfeld der Taxonomie – der Artenkunde – als ausgeforscht. Die Lehrstühle an den Hochschulen werden abgeschafft, karrierebewusste Jungforscher wenden sich spannenderen Forschungsfeldern zu und ehrenamtliche und berufliche Artenkenner sterben inzwischen noch schneller aus als die Arten selbst. Dabei gilt: Je unauffälliger die Lebensform, desto weniger Expertinnen und Experten dafür gibt es auf der Welt. Während Pflanzenkundler:innen und Ornitholog:innen noch zahlreich vorhanden sind, gibt es kaum Expertinnen und Experten etwa für Zweiflügler oder Fadenwürmer.
Durch das DNA-Barcoding kommt neuer Schwung in die Forschung. Gemeinsam mit der Betrachtung von morphologischen Merkmalen wird die Turbo-Taxonomie erfunden. Es gibt weltweit eine Reihe von Initiativen, die versuchen, für bestimmte Artengruppen Datenbanken mit DNA-Barcode-Sequenzen als Referenzen aufzubauen. Ziel der Initiativen ist es vor allem, Sequenzen von zweifelsfrei bestimmten Individuen beschriebener Arten zu sammeln und einzulesen, um Daten für Anwender:innen bereitzustellen. Die Initiative IBOL (International Barcode of Life) koordiniert die Bemühungen in zahlreichen Artengruppen und leistet technische Hilfe.
Proben in den Barcoder und heraus kommt die Artenliste
Der Ehrgeiz mancher Forschungsgruppen geht allerdings schon weit über diese Ziele hinaus. Viele erträumen sich, einfach unsortierte aus der Umwelt gewonnene Proben zu sequenzieren und anschließend mehr oder weniger eine Artenliste des entsprechenden Lebensraums zu erhalten, ohne hochtrainierte, teure und seltene Spezialist:innen bemühen zu müssen. Andere erwarten in naher Zukunft durch Miniaturisierung der Komponenten sogar transportable Barcoder, die, handhabbar im Gelände oder am Arbeitsplatz, aus kleinsten Proben verlässlich und in Echtzeit einen Artnamen ermitteln können.
Entdeckung neuer Arten
Schon heute staunen wir über die Erfolge der Methode: Eine Untersuchung des Schmetterlings Astraptes fulgerator aus Mittel- und Südamerika mittels DNA-Barcoding hat ergeben, dass das, was bisher für eine einzige Art gehalten worden ist, in Wirklichkeit einen Komplex aus zehn sehr ähnlichen Zwillingsarten darstellt, die nach Äußerlichkeiten kaum unterscheidbar sind. In einer Studie an tropischen parasitoiden Brackwespen konnten mit morphologischen Methoden 171 provisorische (zu ca. 95 Prozent unbeschriebene) Arten unterschieden werden. DNA-Barcoding ergab weitere 142 Arten, die bei der morphologischen Sortierung nicht erkannt wurden, die meisten davon wirtsspezifisch. Die Studie lässt Hochrechnungen auf die extreme Artenfülle dieser Gruppe in den Tropen zu, auf die weltweit nur extrem wenige Taxonomen spezialisiert sind.
Inzwischen gibt es Bestrebungen, das DNA-Barcoding-Verfahren nicht nur zur Identifizierung bereits beschriebener Arten, sondern auch standardmäßig zur Beschreibung neuer Arten heranzuziehen (Turbo-Taxonomie). Die Barcode-Sequenz dient dann, gemeinsam mit einer stark abgekürzten morphologischen Beschreibung, zur Definition der neuen Art, die nur bei Bedarf nach heutigem Standard umfassend beschrieben werden soll. Tatsächlich existieren auch gegenwärtig bereits Arten, die von anderen Arten ausschließlich auf Grundlage der DNA-Sequenz differenziert sind.
Tausende neue Arten in Deutschland zu entdecken
Und es wird noch unglaublicher. Bei uns in Deutschland haben Forscher gesammeltes Insekten-Material aus der Natur mithilfe von DNA-Barcoding untersucht. Und siehe da: Sie haben bei vielen Gruppen wesentlich mehr Arten gefunden, als bisher überhaupt bekannt waren. So sind in Deutschland zurzeit ca. 800 Gallmückenarten beschrieben. Die Forscher haben aber 930 Arten mit ihrer DNA nachgewiesen. Insgesamt gehen wir heute davon aus, dass allein in Deutschland tausende neue Arten auf ihre Entdeckung warten. Eine Aufgabe für junge Forscher! Ihr müsst nur ein wenig im Boden eures Gartens buddeln und findet oft neue, unbekannte Arten.
Weltweit Millionen unentdeckte Arten
Wenn schon in Deutschland mit seiner großen Forscherdichte und jahrhundertelanger Forschungstradition so viele unbekannte Arten zu vermuten sind, dürfte das Potenzial in entlegeneren Gegenden der Welt noch wesentlich größer sein. Von allen Taxonomen dieser Welt arbeiten nur ca. sechs Prozent in den riesigen Weiten des „globalen Südens“. Weltweit sind heute ca. 1,75 Millionen Arten beschrieben. Schätzungen, wie viele Arten es insgesamt auf unserem Planeten gibt, gehen weit auseinander. Sie reichen von 3,7 Millionen bis zu 112 Millionen Arten. Der wahre Wert liegt wohl irgendwo dazwischen. Alle Schätzungen hängen in extremer Weise von den Schätzwerten für die tropischen Regenwälder ab, für die viel zu wenig belastbare Daten vorliegen.
Viele Arten sterben aus, bevor sie entdeckt werden
Aber viele Arten sind bedroht. Wie viele aussterben werden, ja bereits ausgestorben sind, wissen wir nicht. Schätzungen gehen davon aus, dass bis Ende des Jahrhunderts eine Million Arten aussterben könnten, wenn wir nicht dringend etwas unternehmen. Aber auch von den meisten bekannten Arten wissen wir so gut wie nichts. Nur von einem kleinen Bruchteil ist so viel bekannt, dass wir sagen können, ob die Art nun gefährdet ist oder häufig vorkommt. Nur diese Arten gehen in die bekannte Rote Liste der gefährdeten Lebewesen ein, die uns alljährlich mit neuen Gefährdungsraten schockiert. Trotzdem müssen wir leider davon ausgehen, dass viele der noch unbekannten Arten mit ihren Lebensräumen dahinschwinden. Viele Arten sterben aus, bevor sie jemals entdeckt wurden.
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