Der Spessart. Ein ziemlich großer, grüner Fleck in der Mitte Deutschlands, irgendwo zwischen Frankfurt und Würzburg. Das Mittelgebirge gilt als größtes zusammenhängendes Mischlaubwaldgebiet Deutschlands. Rothirsche leben hier, Wildschweine auch. Und Spessarträuber. Letztere zumindest der Sage nach. Und wahrscheinlich war der Spessart damals im Mittelalter tatsächlich ein ziemlich furchterregender Ort mit Räuberbanden und Wegelagerern, die sich in den dunklen Wäldern perfekt verstecken konnten. Nicht umsonst werden viele dunkle Märchen der Gebrüder Grimm, wie etwa Schneewittchen oder Frau Holle, im Spessart verortet.
Der Spessart wird für mich zur persönlichen Sache
Für mich ist der Spessart vor allem eines: Heimat. Hier, in dem kleinen Luftkurort Mönchberg, bin ich geboren und aufgewachsen. Und so sehr ich mich, besonders als Teenager, nach den großen, nie schlafenden Metropolen gesehnt habe, so sehr genieße ich es heute in den Spessart zurückzukommen, die Ruhe zu genießen und das Rauschen der Wälder zu hören. Hört sich nach Naturkitsch und Heimatklischee an? Natürlich! Aber deswegen ist es nicht weniger wahr. Und deshalb wird ganz selbstverständlich alles, was mit dem Spessart zu tun hat, für mich zu einer sehr persönlichen Sache.
Aber bevor ich jetzt zu emotional werde, sollten wir vielleicht nüchterne Zahlen sprechen lassen: Zwei Prozent oder zwei Hundertstel, darum geht es nämlich. Zwei Prozent Wildnis. Bereits im Jahr 2007 hat die Bundesregierung beschlossen, bis 2020 zwei Prozent der Landesfläche aus der Nutzung zu nehmen und sich selbst zu überlassen. Ob zwei Prozent viel oder wenig sind, hängt immer davon ab, wovon wir sprechen. Gerade las ich davon, dass die Inflation im Euroraum erstmals wieder eine zwei vor dem Komma hat. Laut den Zeitungen ist das sehr viel. Auch die Renten sollen in diesem Jahr um etwa zwei Prozent steigen – da wiederum sagen viele, das sei wenig. Und was sind zwei Prozent für die Wildnis? Als Sprecher des WWF Deutschland sage ich, zwei Prozent Wildnis in Deutschland sind weder besonders viel, noch besonders wenig – sondern schlichtweg etwas, auf das wir uns verständigt haben, es zu erreichen.
Zwei Prozent Wildnis in Deutschland
Insgesamt verfügt Deutschland über eine gesamte Bodenfläche von fast 360.000 km². Der absolute Großteil davon wird landwirtschaftlich genutzt (51,6%). Siedlungen und Straßen kommen auf 13,7 Prozent und auf die deutschen Wälder entfallen knapp 30,6 Prozent. Fast 100 Prozent von Deutschlands Fläche wird in irgendeiner Form von Menschen genutzt. Ganz exakt stehen momentan 99,4 Prozent der Landesfläche unter menschlicher Nutzung. Es bleiben 0,6 Prozent, die ausschließlich der Natur überlassen sind. Auch ohne ein Wirtschaftsexperte zu sein, weiß ich, dass 0,6 deutlich weniger als zwei Prozent sind. Und bis zum Jahr 2020 sind es nur noch drei Jahre. In diesem Zusammenhang scheinen zwei Prozent Wildnis sogar sehr viel zu sein – fast schon zu viel.
Die Deutsche Wildnis wird künstlich hergestellt
Echte Wildnis gibt es eigentlich gar nicht in Deutschland. Die derzeitigen 0,6 Prozent Wildnis sind ausschließlich in den 16 Nationalparks unseres Landes zu finden (die geschützten maritimen Flächen der Ost- und Nordsee werden dabei nicht mitgezählt). Unsere künftige deutsche Wildnis, also eben jene zwei Prozent, soll künstlich hergestellt werden. Das klingt paradox, ist aber politisch beschlossen und außerdem sinnvoll. In der Fachsprache wird das als „Prozessschutz“ bezeichnet. Das Spannende dabei ist, dass keiner weiß, was genau passiert. Es gibt kein definiertes Ziel, nur eben, dass die Natur sich selbst überlassen wird.
Im Sommer 2016 hat Bayern angekündigt, nach dem „Bayrischen Wald“ und „Berchtesgaden“ einen dritten Nationalpark zu installieren. Konkret geht es dabei (wohl) um 10.900 Hektar Waldfläche im Hochspessart — und damit nur um einen Bruchteil des über 240.000 Hektar großen Spessarts. Nun wäre die Ausweisung des Nationalparks Spessart längst noch keine Trendwende, um die angepeilten zwei Prozent bis 2020 zu erreichen, doch sie wäre ein wichtiger Schritt dahin. Allerdings wird dieses Thema aktuell recht kontrovers diskutiert von Gegnern und Befürwortern. Die Art und Weise der Diskussion erinnert an den „Steigerwald“, um dessen Umwandlung in einen Nationalpark seit 2007 so heftig gestritten wird, dass das Thema aktuell politisch als tot gilt. Aufgeheizt wird die Stimmung vor Ort von den lautstarken Gegnern, die scheinbar gewillt sind, das gesellschaftliche Klima im Spessart zu vergiften.
Mir wurde sogar von T‑Shirts mit der Aufschrift berichtet „Leg dich niemals mit einem Spessarter an, wir kennen Orte, an denen dich niemand findet“. Soll wohl witzig sein…
Die Mehrheit wünscht sich einen “Nationalpark Spessart”
Als Umweltschutzorganisation befürworten wir vom WWF Deutschland die Ausweisung des Spessarts zum Nationalpark. Allerdings wissen wir auch, dass Ängste und Vorbehalte ernst genommen werden sollten. Eine solche Entscheidung über die Köpfe der Betroffenen hinweg würde keinen Sinn ergeben. Daher wollten wir es genauer wissen. Gemeinsam mit anderen Umweltverbänden haben wir die Bevölkerung befragt, wie sie denn tatsächlich zu diesem Vorhaben stehen. Das Ergebnis ist eindeutig: satte 64 Prozent der Befragten äußerten sich in einer repräsentativen Emnid-Umfrage positiv gegenüber den Plänen, den Spessart zur „Wildnis“ zu erklären. Sogar in den unmittelbar betroffenen Landkreisen Aschaffenburg, Miltenberg und Main-Spessart stimmte die Mehrheit dafür. Die Gegner befinden sich demnach in der Unterzahl. Politisch ergibt sich jedoch ein anderer Eindruck: nämlich der, dass sich wenige, aber einflussreiche Gruppen zusammengetan haben, um das Projekt mit aller Macht zu verhindern. Wir empfehlen dem bayrischen Umweltministerium, sich unsere Zahlen anzuschauen. Außerdem fordern wir die Politik dazu auf, den Auswahlprozess transparenter und nachvollziehbarer zu gestalten.
Ich persönlich würde mich freuen, wenn meine Heimat, meine geliebten Spessartwälder wenigstens zum einem kleinen Teil wieder so werden könnte wie sie zur Zeit der Spessarträuber wohl einmal gewesen sind: mystisch, wild, faszinierend.